Festrede von Herbert Richter | Sächsischer Bergsteigerbund

Festrede von Herbert Richter

Im Vorfeld unseres heutigen Festes haben mir zwei betagte Bergfreunde ihre Erwartungen hinsichtlich meines Vortrags kundgetan. „Mach das ja gründlich! Hundert Jahre SBB! Da musst du mindestens zwei Stunden reden!“ der eine. „Red ja nicht so lange! Machs nur schön kurz!“ der andere.
Da haben wir gleich ein Beispiel der erfrischenden Meinungsvielfalt innerhalb der sächsischen Bergsteigergemeinde – und dabei ging’s noch nicht mal ums Klettern!

Was also jetzt: Gründlich oder schön kurz? Zum Glück hat mich das Festkomitee mit der Vorgabe zehn Minuten plus minus dieser Entscheidung enthoben. Glück für euch, denn wenn ich erst mal rede, komme ich schnell vom Hundertsten ins Tausendste. Glück auch für mich, denn mit Hinweis auf diese Zeitvorgabe kann ich mich gleich dem Thema zuwenden, das mir sowieso mehr als der Verein am Herzen liegt – dem Klettern.

Nichts gegen den Verein! Der hat das Klettern in Sachsen über hundert Jahre entscheidend geprägt und ist für mich die letzte Hoffnung, dass der sächsische Bergsport nicht den Bach runtergeht.
Aber die Prioritäten sind trotzdem klar: Erst mal klettern – über den Verein ist dann immer noch schnell geredet.

In allen Bereichen menschlichen Tuns gibt es sogenannte Axiome, unumstößliche Wahrheiten, die unmittelbar einleuchten und gar nicht erst bewiesen werden müssen, beispielsweise Essen und Trinken erhalten den Leib oder Saufst – sterbst, saufst net – sterbst a, sehr beliebt wegen seiner Konsequenz.

Das erste Axiom des Bergsports nun lautet: Klettern ist schön! Klettern ist schön war über Jahrzehnte mein Schlachtruf, mein Credo, meiner ganzen Weisheit letzter Schluss und galt jeder Spielart unserer unnützen Passion: Verschneite Wände in der Tatra, gefrorene Wasserfälle im Riesengebirge, vergletscherte Berge im Kaukasus, Trittschlingengehample, Bohrhakenleitern, Steinbrüche, Bruchsteinmauern – alles war mir recht.

Der Bergsport hat ja inzwischen jedes Stück Stein des Erdenrunds erobert, vom Everest bis hinunter zu Felsbrocken, wo die Akteure sich am Einstieg hinlegen müssen, um überhaupt ein paar Kletterzüge ausführen zu können. Da ist kein Ziel zu weit. Ein steiler Zahn bei den Antipoden? Nischt wie hin! Felstürme in der Antarktis? Wie gemacht für die Huberbuam! Im Rausch der 1990 gewonnenen Reisefreiheit habe auch ich unsere liebe Erde einmal umrundet – 40000 Kilometer sind das auf dem Großkreis, mein persönlicher Beitrag zur Klimaerwärmung sozusagen – und diesen ganzen Aufwand, um auf einer winzigen Südseeinsel auf eine gerade mal 200 Meter hohe Felsnadel nicht hinaufzukommen.

Wir sehen: Der Bergsport ist in eine Vielzahl von Spielarten und Disziplinen zerfasert, deren eine das Sächsische Bergsteigen ist. Hier nun ist es an der Zeit, das erwähnte Axiom zu präzisieren. Die endgültige Fassung lautet: Klettern ist schön, vor allem in Sachsen! Das ist natürlich eine patriotische Kurzformel, die nicht etwa nur die Bewegung am Fels meint. Sie meint die Landschaft, in der wir klettern, die Gemeinschaft, in die wir uns eingebunden fühlen, die Bräuche und Gepflogenheiten dieser Gemeinschaft, ihre Lieder, Mythen und Legenden. Sie meint die lichtumfluteten Gipfel und die düsteren Schlüchte unseres Gebirges, die Freinächte zu Füßen unserer Felsen, nicht zuletzt natürlich die ganz besondere Art, wie wir hier klettern.

Ich habe einen Freund im Münchner Raum, der sagt mir glatt ins Gesicht: „Ihr Sachsen seid doch blöde!“. Der meint natürlich nicht unsern Quotienten, denn dass wir helle sind, hat er schon bemerkt. Nein – er meint genau diese unsere Art zu klettern. Dabei ist er ein durchaus mutiger Mann und starker Kletterer, aber er ist einen Tick zu vernünftig. Denn eins müssen wir zugeben: Klettern auf sächsisch setzt dem Vernünftigsein eine gewisse Obergrenze. Es ist das Wagnis, das unserm Klettern die Würze gibt, das fröhliche Wagen, das uns die Seele beschwingt, wie einer unserer Sängersprüche so schön sagt.

Ich will nicht etwa das Sächsische Klettern über den Rest der Welt setzen, denn ich bin oft genug in Klettergebieten der andern Art gewesen, um zu wissen: Auch dort ist Klettern schön. Ich will nur auf den Unterschied hinweisen. Den Unterschied macht das mulmige Wohlgefühl, das uns am Einstieg einer schwierigen Route überkommt, eine Art zuversichtlicher Beklommenheit oder bänglicher Vorfreude oder weiß der Teufel was. Denn der sächsische Kletterer geht ins Ungewisse: Auch auf ausgetretenen Pfaden ist immer ein Hauch Pioniergeist dabei, und genau darum dürfen wir sächsischen Kletterer uns Bergsteiger nennen, darum eben auch Bergsteigerbund.

Bergsteigen heißt, einem höchsten Punkt, dem Gipfel, zustreben, und das auf einem Weg, der Erfahrung, Wagemut und Findigkeit voraussetzt – vor allem aber kritische Selbstbefragung, noch bevor man überhaupt Hand anlegt. Man hat zwei mehr oder weniger wohldefinierte Punkte, den Einstieg und den Gipfel, dazwischen jedoch das Abenteuer. Denn hier gibt es keine Wegweiser in Gestalt lückenloser Hakenfolgen, keine weißgeschmierten Griffkombinationen, die unweigerlich zu einem Umlenker führen und – nebenher bemerkt – dem Aktiven die Freude am Entdecken, Abwägen und Entscheiden stehlen. Nein – hier ist der Kletternde noch Pionier, Bergsteiger eben.

Wir alle sind zu einer Zeit geboren, als das Sächsische Bergsteigen die Wirren seiner ersten Jahre längst hinter sich hatte, und deshalb nehmen wir unser Klettern mit seinen strengen Regeln als ganz selbstverständlich hin. Aber so selbstverständlich ist das gar nicht. Als der SBB gegründet wurde, war die Mehrzahl der Felstürme diesseits und jenseits der sächsisch-böhmischen Grenze bereits bestiegen worden, und das war ohne jede Regel vonstatten gegangen – jeder benutzte bei seinen Eroberungszügen, was ihm gerade recht erschien: Eingehauene Griffe, Eisenstifte, selbst Leitern und herbeigeschleppte Baumstämme. Ja, die Freiheit in den Bergen – hier sieht man mal, was grenzenlose Freiheit anrichten kann.

In dieser Situation kam ein Büchlein heraus, das wir heute, mit dem Abstand von fast hundert Jahren, getrost die Geburtsurkunde des Sächsischen Bergsteigens nennen können. Das war Rudolf Fehrmanns Kletterführernachtrag von 1913, in dessen Vorwort er in wunderbarer Klarheit die Idee – ja die Notwendigkeit – des hilfsmittellosen Kletterns in unserem Gebirge darlegt. Die meisten von euch wissen das alles schon, aber ich kann mir nicht versagen, wenigstens kurz daraus zu zitieren: Der Begriff des künstlichen Hilfsmittels lässt sich haarscharf abgrenzen: Künstliches Hilfsmittel ist die vom Menschen beim Ersteigungsangriff auf den Fels eingeführte Hilfsgröße, zu dem Zwecke benützt, die Überwindung der Schwerkraft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Und weiter: Wer die Verhältnisse in unserm Sportbetriebe genau kennt, muss zu einer grundsätzlichen Verurteilung aller künstlichen Hilfsmittel kommen.

Ich frage mich, wie es Fehrmann und seinen Mitstreitern im SBB damals gelungen ist, das Prinzip des hilfsmittellosen Kletterns innerhalb kurzer Zeit zum allgemein anerkannten Bekenntnis der sächsischen Klettergemeinde zu machen. Wie schafft man so etwas? frage ich mich angesichts der jüngsten Entwicklungen in unserm Gebirge.
Wie vermittelt man der neuen Generation das Bewusstsein, dass das Sächsische Bergsteigen eine wertvolle, einzigartige Spielart des Bergsports ist, die davor bewahrt werden muss, in dem Klettereinheitsbrei aufzugehen, der weltweit ein Felsrevier nach dem andern schluckt.

Wir sind seit geraumer Zeit eins der sogenannten neuen Länder, und wie vieles oder eigentlich alles ist auch der Sächsische Bergsport nicht mehr das, was er mal war. DIE NEUEN LÄNDER – Verzeihung, über diese Wortschöpfung stolpere ich immer wieder. Die neuen Länder – das klingt, als hätte Dr. Kohl uns dem Wattenmeer abgerungen. Aber hat Sachsen keine Geschichte? Haben wir der Welt nicht aller hundert Jahre etwas Wertvolles geschenkt? Vor 300 Jahren das europäische Porzellan, vor 200 Jahren Richard Wagner, vor 100 Jahren – na, deshalb sind wir ja hier!

Die Reisefreiheit, derer wir uns seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlands erfreuen, hat in unseren Heimatbergen beunruhigende Veränderungen gezeitigt: Die Gemeinde kränkelt und droht, in zwei Lager zu zerfallen. Denn, kaum dass die Sachsen die harte Mark in der Tasche hatten, schwärmten sie aus und erkundeten, was ihnen bis 1990 unerreichbar gewesen war, darunter auch die Zentren des sogenannten Sportkletterns – und dort scheiden sich die Geister.

Der eine merkt nach zehn, zwanzig, dreißig dieser immer wieder gleichen Plaisierrouten, dass irgend etwas Wesentliches fehlt – das Respekthabenmüssen nämlich, das er von zu Hause gewohnt ist, und da wird’s ihm irgendwann langweilig. Der andere erliegt in risikolosen Extremrouten dem Reiz des schnellen Erfolgs, und den will er nun auch zu Hause haben. Dort wählt er den Umweg übers TOPROPE, übt den Weg ein und markiert womöglich noch die entscheidenden Griffe, bis er sich den ersehnten Zehner schließlich im Vorstieg zutraut.
Dass der Erstbegeher dieselbe Route von unten nach oben, wie man heute sagt onsight, erschlossen hat, ficht ihn nicht an. Er will Spaß haben – muss er sich deshalb etwa schämen? Heutzutage will doch jeder Spaß haben und zwar immer und überall.

Dieses allgemeine, allgegenwärtige Spaßbedürfnis vergiftet langsam unsere Gesellschaft. Die bunte Presse, was sage ich, sogar die Sächsische Zeitung, vermittelt uns unablässig die Botschaft, dass alles Spaß machen muss. Star X hatte auf dem Semperopernball viel Spaß. Dem Landtagsabgeordneten Y macht seine Tätigkeit ausgesprochen Spaß, und Lothar Matthäus hat es unglaublich Spaß gemacht, seine vierte, fünfte, sechste Frau heimzuführen.

Wer hat denn nicht gern Spaß? Aber jeder Mensch braucht auch stille Momente und Stunden der Ernsthaftigkeit. Suchen wir nicht gerade diese in den Bergen? Mich braucht keiner zu agitieren, wie lustvoll es ist, auf Sardinien ohne Sorgen um die Sicherung an sagenhaften Schwarten und messerscharfen Winzigkeiten durch eine blendend helle Wand überm Meer zu steigen. Aber vierzehn Tage davon reichen dann auch. Ich will keinem hineinreden, und wenn einer ganzjährig so klettern will – seine Sache. Aber es ist ein unbilliges Ansinnen, die sächsische Kletterpraxis solchen individuellen Vorlieben anzupassen.

Der erklärte Verzicht auf künstliche Kletterhilfen, der über ein halbes Jahrhundert unser Markenzeichen war, ist als Charakteristikum sächsischen Kletterns mit dem Aufkommen des Sportkletterns unbrauchbar geworden. Wir haben aber noch einen zweiten Trumpf im Ärmel – die bewusste und freiwillige Beschränkung im Gebrauch künstlicher Sicherungsmittel. Spartanisch oder idiotensicher – das macht jetzt den Unterschied, und was Charles Darwin schon immer gesagt hat, das ist passiert: Die gebietsspezifischen Sicherungsstandards haben gebietsspezifische Unterarten der Spezies Kletterer hervorgebracht.

Was nun hat die Evolution im Habitat Elbsandsteingebirge so Wundersames erzeugt? Einen Kletterer, der nachdenkt, bevor er losklettert. Zwar hat der sächsische Kletterer sich das Risiko kultiviert, aber er schätzt körperliche Unversehrtheit deshalb nicht etwa weniger als Herr Zieschong und Frau Bähnert. Darum überdenkt er am Einstieg die Anforderungen der auserwählten Route und fragt sich: Reicht hier meine Kraft, reicht hier mein Mut? Und je erfahrener er ist, desto mehr Reserven, physische wie psychische, rechnet er ein. Und dann sagt er: „Seil raus, Kumpels! Ich mach mal los!“ oder eben „Nee – heute lieber nicht!“ oder gar „Nächstes Jahr vielleicht!“

Dieses Abwartenkönnen, das aus der immerwährenden strengen Selbstbefragung resultiert, ist eine der wertvollsten Komponenten unseres Sports. Es hat über Jahrzehnte hinweg Wünsche und Erwartungen in mir wach gehalten, es hat mich Triumph und Niederlage schmecken lassen und mich schließlich wohl auch vorm frühzeitigen Ableben bewahrt.

In seinem Buch ELBSANDSTEIN-KLETTERN hat Frank Richter einen Klettertag der jungen Sachsen Peter John und Tino Tanneberger dokumentiert – zwölf Seiten, die jeden Bergbegeisterten auf eigene Weise ansprechen. Den Gebietsfremden beschleicht wohl eine Ahnung, was ungefähr Sächsisches Bergsteigen sein mag. Den alternden Eingeborenen aber erfüllen Stolz und Wehmut zugleich, vor allem jedoch verbindet sich seine Gewissheit, die eigene Jugend nicht sinnlos vertan zu haben, mit der Zuversicht, dass auch die neue Generation in der Lage ist, in unserm übererschlossenen Gebirge Aufgaben zu formulieren, die unserer Tradition würdig sind.

Verehrte Damen und Herren, liebe Bergfreunde!

Zu Hause am Schreibtisch habe ich bei dem Versuch, den Sächsischen Bergsteigerbund sozusagen würdig zu würdigen, sehr schnell kapituliert. Ein solcher Verein – Interessenvertreter von nahezu 10000 Mitgliedern, tätig und wirksam in verschiedensten Arbeitsfeldern, ich nenne nur mal Kinderbetreuung, Naturschutz, Bibliothek – und dafür zehn Minuten, das geht gar nicht. Deshalb haltet mir bitte zugute, dass ich mit dem Hohelied des sächsischen Bergsports zugleich das des Sächsischen Bergsteigerbunds gesungen habe. Denn dieser hat die sächsische Kletterkultur begründet und bis heute bewahrt – na, sagen wir mal: weitgehend.

Bewahren heißt nun nicht etwa Konservieren, sondern Entwickeln – in unserm Falle Entwickeln im Fehrmannschen Sinne, im Sinne einer Sportlichkeit also, die Körper und Geist gleichermaßen fordert. Dies ist in der Vergangenheit gelungen und die schwierigste Aufgabe der Zukunft. Dazu wünsche uns und unserm Bund Zuspruch, Zusammenhalt, Glück und Erfolg.

Und nun, liebe Bergfreunde, ein letztes Mal: Klettern ist schön!