Auf dem Friedensweg wandert man in Südtirol mit jedem Schritt in die Geschichte. Wir alle waren bestimmt mindestens einmal zum Wandern, Klettern oder Skifahren in Südtirol und wer nicht blind durch die Landschaft gegangen ist, dem werden die zahlreichen Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs nicht entgangen sein. Noch heute, reichliche einhundert Jahre nach Kriegsende mahnen die Spuren eindringlich auf die furchtbaren Ereignisse des Gebirgskrieges von 1915 bis 1918.
Mit dem Eintritt Italiens in den Großen Krieg am 23. Mai 1915 war im Süden des Habsburgerreiches eine zweite Front entstanden, die Dolomitenfront, deren Linie meist im Hochgebirge, auf steilen Felsen und Pässen verlief, vom Stilfser Joch bis zum Isonzo (italienisch)/zur Soča (slowenisch), vom Brenner zum Gardasee. Zunächst war Italien Bündnispartner der Mittelmächte, d. h. des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarn und bei Kriegsausbruch neutral geblieben (als Defensivbündnis beinhaltete es keine militärischen Beistandsverpflichtungen). Aber das reiche und wohlhabende Südtirol stand schon lange auf der Liste einer irredentistischen Bewegung radikaler, nationalistischer Großmacht-Begehrlichkeiten des Königreichs Italien. Für den Fall des Kriegsbeitritts wollte Italien die italienischen Sprachgebiete bzw. Sprachinseln im Trient erhalten. Der österreichische Kaiser lehnte dieses brüske Verlangen umgehend ab, jedoch mit dem unguten Gefühl der Wiener und Berliner Militärs, Italien könne sich jetzt für die Gegner verdingen. Und so kam es, mit all den schrecklichen Folgen für die Monarchie. Die alliierten Gegner der Mittelmächte Großbritannien, Russland und Frankreich sagten wohlwollend zu und besiegelten dies im Londoner Geheimvertrag von 26. April 1915, worin das gesamte Südtirol einschließlich dem Trentino italienisches Hoheitsgebiet werden sollten sowie das österreichische Küstenland an der oberen Adria und Teile der dalmatinischen Küste in Aussicht gestellt wurden. Es handelte sich hierbei um Territorien mit größtenteils nicht-italienischer Bevölkerung, die aber seit langem Bestandteil der Maximalforderungen radikaler italienischer Nationalisten waren. Damit war ein weiteres vieler Nationalitätenprobleme verursacht worden, welche bis heute für Unfrieden sorgen (Balkan, naher Osten).
Der Krieg nahm nun schreckliche drei Jahre seinen Lauf ohne nennenswerte Gewinne auf beiden Seiten, ein Stellungskrieg wie an der Westfront, mit unglaublich vielen Opfern jedoch mehr durch objektive Umstände wie Lawinen, Kälte, Hunger, Krankheiten, Abstürzen in steilen Wänden und im Schnee.
Mit dem Waffenstillstand, der einer bedingungslosen Kapitulation gleichkam, am 3. November 1918 war noch lange kein Frieden. Am selben Tage begann die Besetzung Südtirols durch Italien, sogar das nordtiroler Innsbruck wurde besetzt. Erst 10 Monate später am 10. September 1919 wurden mit dem Vertrag von St. Germain (damals als Diktat von Saint-Germain bezeichnet bzw. das Pendant vom Versailler-Vertrag für das Deutsche Reich) von den Siegermächten die Vertragsbedingungen vorgelegt und mussten von Habsburg unterzeichnet werden. Doch so lange hatten die Italiener nicht gewartet, um die südtiroler Bevölkerung zu italienisieren. Bereits lange vor dem Krieg hatte der Italiener Ettore Tolomei eine Liste erarbeitet, in der südtiroler (deutsche) Familiennamen, geografische Bezeichnungen, Städte-, Dorf-, Straßennamen usw. eine oft willkürliche, häufig entstellende italienische Bezeichnung erhielten. Alles was deutsch war wurde verboten. Das wollten sich die stolzen Südtiroler nicht gefallen lassen, hatte sich doch Tirol mit Andreas Hofer gegen die bayerische bzw. napoleonische Besatzung rund einhundert Jahre zuvor gewaltsam zur Wehr gesetzt. Mit dem Mussolini-Faschismus wurden die Daumenschrauben für die Südtirolern weiter angezogen. Viele Südtiroler haben ihr Land verlassen und weiter nördlich ihr Glück versucht. Jahrzehntelang kämpften Separatisten Südtirols gegen die Zentralgewalt in Rom, zum Teil auch militant, für die Ablösung von Italien. Erst mit der EU und dem Südtiroler Autonomiestatus 1993 nach jahrelangen zähen Verhandlungen mit Rom kehrte Ruhe ein – vermeintlich. Der von Tolomei frei erfundene italienische Begriff Alto-Adige (Obere Etsch) für Südtirol ist für viele ein Dorn im Auge und gehöre abgeschafft. Auch wir, die wir diese Zusammenhänge nicht oder nur unzureichend kennen, nutzen diesen und andere Begriffe selbst oft unbedacht und unkritisch. Wer einen echten deutschsprachigen Südtiroler als Italiener anspricht steht schon tief im Fettnäpfchen. Viele deutschsprachigen Südtiroler können sich auch heute nicht mit der Situation abfinden, sie bezeichnen sich als „Pass-Italiener“ und das Leitmotto der Partei Süd-Tiroler Freiheit sowie zahlreicher örtlicher und überregionaler Vereine ist die Wiederangliederung an Tirol (Nord- und Osttirol). Es darf aber gefragt werden, ob in einem geeinten Europa dieses Ansinnen noch zeitgemäß ist oder ob es mit Österreich nicht zu einer Verschlimmbesserung käme. Nun, was ist denn zeitgemäß? Und für Europa können wir nur hoffen.
Im Wanderbüchlein und am Wanderweg sind die oben beschriebenen Hintergrundinformationen nicht erwähnt, aber im Internet finden sich dafür seriöse Beiträge wie dieser . Natürlich ist das Wanderbuch kein Geschichtslehrbuch, doch wer sich auf einen geschichtsträchtigen Marsch von 700 Kilometern macht, sollte doch auch mit der Historie etwas vertraut sein, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Am Wanderführer selbst gibt es nichts zu mäkeln, kommt er doch in gewohnter Rother-Qualität mit vielen Informationen vom Wegesrand und kleinen Wanderkärtchen. Der Weg führt vom Stilfser Joch im Vinschgau in 45 Etappen in die Dolomiten bis nach Sexten. Die Autorin liefert detaillierte Informationen über Etappen, Übernachtungsmöglichkeiten und macht Vorschläge, welche Etappen sich als Tageswanderungen oder mehrtägige Hüttentouren für jeden Schwierigkeitsgrad anbieten. Der historisch bedeutendste Fernwanderweg Italiens besticht durch eine außergewöhnlich abwechslungsreiche Wegführung auf alten Kriegspfaden aus dem Ersten Weltkrieg in meist einsamen Alpenregionen.
Falk Große
P.S.: Vorliegende Rezension erschien auch im Mitteilungsblatt 3/2020 des SBB, jedoch in gekürzter Fassung.